3. Januar 2018
Unterwegs mit Snowcard, oder: Strategie in der Lawinenkunde (Interview mit Jan Mersch)
Jan Mersch, Diplom-Psychologe, Bergführer und Trainerausbilder für den Deutschen Alpenverein, kennt sich mit der Snowcard so gut aus wie wohl kaum jemand sonst. Schließlich hat er sie – gemeinsam mit dem inzwischen verstorbenen Martin Engler – erfunden.
Was kann ich mit der Snowcard machen?
Du kannst mit ihr das Risiko abschätzen, das von der aktuellen Lawinengefahr ausgeht. Diese Abschätzung kannst du sowohl bei der Tourenplanung daheim als auch im Gebiet vornehmen – aber eben auch auf der Tour, direkt im Hang, in der Situation vor Ort.
Du hast sie ja erst vor kurzem wissenschaftlich getestet. Diesen Ergebnissen zufolge: was genau bringt die Snowcard?
Wir haben tatsächlich die Lawinenunfälle der letzten zehn Jahre in Österreich und der Schweiz untersucht. Dabei sind wir zu folgendem Ergebnis gekommen: Etwa 80 Prozent der Unfälle mit tödlichem Ausgang hätte man bei konsequenter Anwendung der Snowcard vermeiden können. Und auch in den Wintern, wo es viele sogenannte Expertenunfälle gibt, wo also ein häufig schwer zu entdeckendes ->Altschneeproblem vorliegt, zeigt die Snowcard eindeutige Hinweise auf ein signifikant erhöhtes Risiko an, wenn man die relevanten Informationen, die zu diesen Unfällen vorliegen, quasi über die Snowcard kämmt. Was man aber mit der Snowcard nicht hinbekommt, ist eine Aussage der Art: „Dieser Hang ist sicher, weil …“
Wenn ich die Snowcard konsequent anwende, kann ich dann überhaupt noch Spaß haben beim Skitouren gehen?
Also ich bin fast 100 Tage im Winter unterwegs, mache auch Freeride-Geschichten mit anspruchsvollen Kunden, die abfahrtstechnisch wirklich etwas geboten bekommen. Und ich würde sagen: In 80 Prozent der Situationen, in denen ich unterwegs bin, komme ich mit den Empfehlungen der Snowcard wunderbar zurecht. In rund 20 Prozent der Fälle sagt sie mir: „Das ist gerade ganz schön riskant, wie du da unterwegs bist – und die Hälfte dieser Fälle, in denen sie mich bremst, ist absolut gerechtfertigt. In der anderen Hälfte dieser Fälle bediene ich mich der Analytik, betrachte also den Schneedeckenaufbau genauer und finde dann gute Argumente, warum die Snowcard hier falsch liegt. Dazu muss man sagen: Ich bin schon Skifahrer im Winter, ich gehe auf Skitour wegen der Abfahrt, nicht als Bergsteiger – aber ich bin dennoch defensiv unterwegs. Ich suche nicht immer das Megasteile, die krasse Linie ums Eck, wo garantiert noch keiner war.
Wie lerne ich als Anfänger den Umgang mit der Snowcard? Die Grundlage ist natürlich der Lawinenlagebericht, und der ist in den letzten Jahren extrem verbessert worden. Ihn muss ich erstmal lesen und verstehen können, darauf baut die Snowcard auf. Dann muss ich mich natürlich, sowohl per Karte als auch im Gelände, orientieren können, muss wissen, wo ich bin: Welche Expositionen, welche Geländeformen, was für eine Steilheit, dafür brauche ich schon ein gutes Gefühl, um sicher unterwegs zu sein. All das ist nicht so wahnsinnig schwer, aber es hilft, einen Kurs in einer Bergschule oder bei einer Alpenvereinssektion zu machen und sich in der Hinsicht anleiten zu lassen.
Was ist der größte Fehler, den Menschen im Umgang mit der Snowcard machen?
Da gibt es verschiedene, die verschieden gravierend sind. Einmal die platte Betrachtungsweise, so à la: Da kann ich gar nichts spannendes mehr fahren oder gehen, dieser Blick ist aus meiner Sicht falsch und gefährlich. Der zweite Fehler bezieht sich auf den Einzugsbereich: Bei Gefahrenstufe drei, erheblich, muss ich die steilste Stelle im gesamten Hang in meine Risikoabschätzung einbeziehen, nicht nur den Bereich um die Spur herum. Das unterschätzen viele, und es gibt viele Dreier, bei denen man den Einzugsbereich einfach nicht unterschätzen darf. Sehr gefährlich ist außerdem noch die Anwendung bei Gefahrenstufe zwei, mäßig.
Inwiefern?
Da denken viele: „Ach, heute kann ich eh steil gehen und fahren.“ Und latschen dann, am besten noch ohne jegliche Abstände, in gefährliche Triebschneehänge hinein…
Die Situationen, in denen die Snowcard eine rote Ampel anzeigt, die aus deiner Sicht, mit deiner Erfahrung nicht gerechtfertigt ist. Wie lassen sich die systematisieren? Oder anders gefragt: Wo kommt die Snowcard typischerweise an ihre Grenzen?
Überall da, wo kleinräumig die Schneedecke deutlich günstiger aufgebaut ist, weil zum Beispiel der Gipfelhang stark eingefahren ist oder ich auf Grund von sonstigen Untersuchungen zu dem Schluss komme, dass die Situation lokal markant freundlicher ist als im Lagebericht angegeben – denn der gilt ja für ein großes Gebiet, nie für eine einzelne Tour, geschweige denn einen einzelnen Hang. Aber so viele Situationen sind das gar nicht. Mir geht es ziemlich häufig so, dass mir die Snowcard grün oder gelb anzeigt und ich mir denke: „Auweh, das gefällt mir hier gar nicht so gut.“ Selbst in Frühjahrssituationen und bei Altschneeproblemen liegst du mit der Snowcard nicht so schlecht. Sie zwingt dich einfach immer, den Lagebericht sehr gründlich zu lesen. Und damit bekommst du ein sehr gutes Bild von der Gefahrensituation, in der du dich bewegst.
Der Hauptfaktor bei der Anwendung der Snowcard ist ja die Steilheit eines Hanges. Könnten künftig auch andere Geländekategorien stärker miteinbezogen werden, oder wird es dann zu komplex?
Wenn man sehr stark in die Analytik – also die Untersuchung des Schneedeckenaufbaus – einsteigt, dann hat man es mit einem sehr komplexen und sehr chaotisches System zu tun, das wird immer so bleiben. Deshalb ist es sicher nicht verkehrt, über andere Geländefaktoren nachzudenken, die Snowcard ist da sicher noch nicht das Ende der Entwicklung. Aber wie man das sauber kategorisiert bekommt, das ist halt nicht so einfach. Wie steil wird es hinter diesem Buckel da hinten? Wo könnte es wie stark und wie frisch eingeblasen sein? Wo sind die abgeschatteten Hangbereiche, von denen ich wegbleiben sollte? Das ist alles nicht so leicht zu vermitteln oder gar in ein Schema wie die Snowcard einzubetten, das lernt man eben doch eher mit der Erfahrung.